Psychologe: “Kinder können sich eigentlich jetzt schon einen Therapeuten suchen”

Die Netflix-Dokumentation über den Rapper Haftbefehl polarisiert: Zu sehen ist ein Mann, der zwar erfolgreich ist, aber stark drogenabhängig. Seine Ehefrau ist dabei an seiner Seite – was viele junge Menschen bewundernswert finden. Der Psychologe Christian Hemschemeier sieht das ganz anders.
Die Netflix-Dokumentation “Babo – Die Haftbefehl-Story” ist ein voller Erfolg: Seit Veröffentlichung hält sie sich in Deutschland auf Platz eins. Vor allem in sozialen Medien wie Instagram und TikTok wird die Dokumentation über Aykut Anhan, wie der Rapper Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, heiß diskutiert. Neben seiner exzessiven Kokain-Sucht geht es vor allem um seine Ehe mit Nina Anhan. In der Doku wird deutlich, wie sehr sie unter dem Suchtproblem ihres Partners leidet.
Weil sie ihren Ehemann trotz der Sucht und dem damit einhergehenden Verhalten nicht verlässt, wird Anhan von vielen – vorrangig jungen Männern – auf Social Media als starke, loyale Frau gefeiert, teils regelrecht glorifiziert.
Laut dem Psychologen und Paartherapeuten Christian Hemschemeier ist das problematisch. Im Interview mit unserer Redaktion ordnet er die Dokumentation und die dargestellte Beziehung ein.
Herr Hemschemeier, auf TikTok und Instagram äußern sich viele User zu der Beziehung von Haftbefehl und seiner Ehefrau. Sie ist seit Jahren an seiner Seite, während er mit Suchtproblemen kämpft. Sind die beiden ein typisches Beispiel für Co-Abhängigkeit?
Christian Hemschemeier: Ja, definitiv. Der Begriff Co-Abhängigkeit kommt ursprünglich von Beziehungen mit Abhängigen. Häufig kommt es in Partnerschaften mit Drogenabhängigen dazu, dass die Person, die nicht abhängig ist, sich verantwortlich fühlt und für beide am Ball bleibt. Aber das ist kontraproduktiv. Denn in den meisten Fällen hilft so ein Verhalten dem Abhängigen nicht, mit dem Drogenkonsum aufzuhören.
Woran lässt sich erkennen, ob ein Paar co-abhängig ist?
Psychologe Christian Hemschemeier ist der Meinung, dass Drogenkonsum in der Haftbefehl-Doku falsch dargestellt wird.
© Anna Siggelkov
Der Begriff ist selbsterklärend, weil es auch eine Sucht ist, jemanden retten zu wollen. Häufig haben dieses Bedürfnis Partnerinnen oder Partner, deren Kindheit von Abhängigkeiten geprägt war, zum Beispiel durch einen Elternteil mit Drogenproblemen. Das ist ein Wiederholungszwang der Psyche: Wenn man den Elternteil schon nicht retten konnte, dann wenigstens den Partner. Solche Menschen opfern sich auf und geben sich dabei selbst auf. Dabei steht der Wunsch nach Liebe und Anerkennung im Mittelpunkt. Sie sind gewissermaßen von ihrem drogensüchtigen Partner liebes-abhängig und abhängig von der Beziehung.
Es gibt eine schöne Metapher: Fallen im Flugzeug die Sauerstoffmasken heraus, sollte man sie sich selbst zuerst aufsetzen. Ein Co-Abhängiger würde seinem Nachbarn die Maske zuerst aufsetzen, und dann selbst zugrunde gehen. Sich so intensiv um jemanden zu kümmern und sich selbst hinten anzustellen, ist nichts Ehrenhaftes. Keine Beziehung sollte etwas ertragen, was nicht zu ertragen ist – zumindest im Fall von Drogensucht.
“So eine Beziehung zu romantisieren, ist absolut verwerflich, denn so eine Beziehung macht krank.”
Christian Hemschemeier, Psychologe, über die Ehe von Haftbefehl
Das Problem an der Co-Anhängigkeit ist aber, dass eine Trennung Betroffenen besonders schwerfällt.
Es wird als ein “Ich-kann-nicht-raus” dargestellt, aber eigentlich ist es ein “Ich-will-nicht-raus”. Wenn man schon viel psychische Arbeit und Energie in eine Beziehung gesteckt hat, fällt es schwer, diese aufzugeben. Je länger man drinnen bleibt, desto schlimmer wird es. So eine Beziehung zu romantisieren, ist absolut verwerflich, denn so eine Beziehung macht krank. Und wenn auch noch Kinder mit im Spiel sind – wie es bei Haftbefehl und seiner Frau der Fall ist –, ist das Ganze noch schwieriger. Allerdings könnte man aus so einer Beziehung raus – insofern hat man auf jeden Fall eine Mitverantwortung.
Gibt es überhaupt einen Weg aus der Co-Abhängigkeit ohne eine Trennung?
Ja, wenn der andere sein Drogenproblem aufgibt. Aber bei fortgesetztem Konsum sollte man nicht bleiben. Als Partner hat man einen großen Hebel und kann dem Abhängigen die Pistole auf die Brust setzen. Das Paradoxe an Drogentherapie ist nämlich, dass das Nicht-Helfen oft die größte Hilfe ist. Klar, es ist eine Krankheit, aber in diesem Fall wäre das liebevollste, die Person fallen zu lassen, mit der Perspektive, dass man es noch einmal probiert, wenn sie wirklich etwas ändert. Um eine gute Beziehung zu führen, sollte die abhängige Person clean werden. Zusätzlich ist eine Paartherapie sinnvoll.
Auch in meiner Familie gab es das Thema Abhängigkeit – und wenn ich in der Dokumentation sehe, wie Haftbefehl offensichtlich high mit seinen Kindern interagiert, bekomme ich Gänsehaut. Seine Frau steht daneben und sagt nichts. Das Netflix-Team steht daneben und sagt nichts. Eine schockierende Szene, die mich sehr getriggert hat!
Das passiert in der Szene
- Nina Anhan und Haftbefehl umarmen sich in der Küche des gemeinsamen Hauses in Stuttgart. “Du dachtest, ich komme nicht, was?”, fragt er. “Ja, bei dir weiß man immer nicht”, entgegnet sie. Im Anschluss packt sie die Koffer für den geplanten Familienurlaub. Haftbefehl kuschelt mit seinen Kindern. Dabei wirkt er wackelig auf den Beinen. Später sitzt er benommen auf der Treppe des Hauses, atmet schwer. Seine Kinder und Ehefrau sind bereits abfahrbereit. “Fahrt zum Flughafen. Ich komme mit der ersten Klasse nach”, sagt Haftbefehl. In einer späteren Sequenz sieht man Nina Anhan mit den beiden Kindern am Flughafen, allein. Später sieht man Szenen aus dem Urlaub: Anhan plantscht mit den Kindern im Meer. Von Haftbefehl keine Spur.
Der ein oder andere Zuschauer hat sich bei dieser Szene bestimmt gefragt, wieso Nina Anhan ihren Mann in diesem Zustand zu den Kindern lässt – und wieso sie das scheinbar einfach so hinnimmt …
Frauen wurde über Jahrhunderte anerzogen, die Familie zusammenzuhalten. Viele Frauen sehen sich als Kümmerin innerhalb der Familie. Und hinter Co-Abhängigkeit steckt häufig mangelnde Selbstliebe. Das ist der größte Treiber.
“Wer keine Grenzen setzt, wird ausgenutzt. Das hat nichts mit bedingungsloser Liebe und ‘Gemeinsam durch dick und dünn’ zu tun.”
Christian Hemschemeier, Psychologe
Man kümmert sich also nicht genug um sich selbst?
Genau. Das zeigt sich in der Dokumentation sehr eindrücklich: Haftbefehl dreht sich nur um sich selbst, und der Co-Abhängige – in diesem Fall seine Ehefrau – dreht sich nur um den Partner. Das ist ein Selbstliebedefizit und ein damit einhergehendes, völliges Fehlen von Grenzen. Wer keine Grenzen setzt, wird ausgenutzt. Das hat nichts mit bedingungsloser Liebe und “Gemeinsam durch dick und dünn” zu tun.
Dennoch bewundern vor allem junge Männer Haftbefehls Ehefrau für ihre Loyalität …
Das kann ich nachvollziehen. Viele junge Menschen haben sogenannte Situationships und sind laut Studien vor allem seit der Covid-19-Pandemie egoistischer. Als Gegenbewegung wünschen sich junge Menschen eine Beziehung mit einem loyalen Partner, im Fall von jungen Männern mit einer loyalen Frau. Aber Loyalität sollte immer Hand in Hand gehen. Das lässt sich aufrechnen: Wie viel stecke ich in die Beziehung und wie viel mein Partner? Selbstverständlich kann das über Monate auch mal im Ungleichgewicht sein, aber nicht die ganze Beziehung über.
Was ist eine Situationship?
- Eine Situationship ist eine undefinierte, lockere Beziehung, die emotional und körperlich nah sein kann, jedoch ohne feste Absprachen oder Verpflichtungen besteht.
- Der Begriff, zusammengesetzt aus den englischen Begriffen “situation” und “relationship”, beschreibt den Zustand zwischen Affäre und Partnerschaft – geprägt von Unklarheit darüber, was man füreinander ist.
So wie es offenbar in der Beziehung von Haftbefehl und seiner Ehefrau der Fall ist.
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Für mich ist das keine Beziehung! Er ist mal fünf Tage weg. Sie weiß nicht, was er macht. Dann kommt er wieder, high, und spielt mit seinen Kindern, konsumiert weiter und verschwindet wieder. Das ist einfach schlimm. Die Kinder können sich eigentlich jetzt schon einen Therapeuten suchen. Das generationale Trauma hat Netflix eindrücklich dargestellt: von Generation zu Generation passiert exakt das Gleiche. Haftbefehls Vater war nicht für ihn da, jetzt ist er selbst nicht für seine Kinder da. Menschen lernen am Modell. Für die Kinder ist es fatal, ihren Vater so mitzuerleben.
Zeichnet Netflix da ein verfälschendes Bild?
Netflix stellt den Drogenkonsum meiner Meinung nach falsch dar: Da ist nichts Dreckiges, da kotzt keiner, alles clean und schön gefilmt. Natürlich ist die oberflächliche Botschaft, dass Drogenmissbrauch ganz schlimm ist. Aber da schwingt auch mit, dass da eine Person von der Straße ist, die es geschafft hat. Das ist hochproblematisch – ich finde das katastrophal.
Über den Gesprächspartner
- Christian Hemschemeier, Diplom-Psychologe, arbeitet seit dem Jahr 2000 in seiner eigenen Privatpraxis mit Schwerpunkt auf Paartherapie sowie der Arbeit mit Gruppen und Teams. Neben seiner Tätigkeit als Ausbilder im Bereich Paartherapie war er von 2014 bis 2020 Kolumnist für zahlreiche deutsche Tageszeitungen. Heute ist er vor allem als Content Creator aktiv, zudem ist er Autor mehrerer Bücher über Liebe und Beziehungen. Im Herbst 2025 erschien sein neuestes Buch “Warum unser Gehirn wie Tiktok funktioniert: Gebrauchsanleitung für deine Emotionen”.
Hilfsangebote
- Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
- Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person unter Drogensucht leidet, gibt es sofortige Hilfe durch bundesweite und lokale Hotlines, zum Beispiel die Sucht & Drogen Hotline 01806 313031 (Deutschland).
- Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.




