Als das DFB-Team im Horror von Paris gefangen war

Am 13. November 2015 wird ein Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland zu einer belanglosen Randnotiz. In Paris ermordeten Islamisten 130 Menschen und verletzten 683 weitere.
Ein lauter Knall, das gesamte Stadion scheint zu vibrieren. Einige der rund 80.000 Zuschauer im Stade de France in Saint-Denis, nördlich von Paris, grölen, andere schauen nur verängstigt umher. Auf dem Platz läuft zunächst alles in gewohnten Bahnen weiter. Die deutsche Nationalmannschaft absolviert gerade ein Testspiel gegen Frankreich, nach 17 Minuten steht es 0:0. Doch drei Minuten später wird endgültig allen etwas mulmig.
Wieder gibt es eine dumpfe Erschütterung, weitaus lauter als herkömmliche Böllerschläge, für die zündelnde Fans so manches Mal verantwortlich sind. Zwar ahnen viele nun, dass die beiden heftigen Detonationen in unmittelbarer Nähe des Stadions etwas Bedrohliches darstellen. Richtig ernst nimmt das Geräusch zunächst aber kaum jemand. Dabei waren alle Anwesenden soeben der größten Katastrophe der Fußball-Geschichte entgangen.
Am Dienstag gastiert der FC Bayern am selben Ort. Dann trifft der deutsche Rekordmeister in der Champions League auf Paris Saint-Germain (ab 21 Uhr im LIVETICKER). Der einzige, der damals wie heute dabei war, ist Manuel Neuer. „Wir sind am Stade de France vorbeigefahren. Und sofort, als wir vorbeigefahren sind, war es bei uns im Bus auch ein Riesenthema“, sagte der Torhüter auf der Pressekonferenz am Montag: „Da kommen natürlich Erinnerungen hoch. Das bleibt natürlich, das wird man nie vergessen.“ Was vor fast genau zehn Jahren passiert ist?
Drei Selbstmordattentäter wollten ins Stadion
An jenem Abend töten islamistisch motivierte Attentäter an mehreren Orten in Paris und der näheren Umgebung insgesamt 130 Menschen und verletzen weitere 683. Die Nacht des 13. Novembers 2015 geht als eine der dunkelsten überhaupt in die Geschichte Frankreichs ein – wobei ein wohl noch viel größeres Ausmaß dieser schrecklichen Tragödie verhindert werden konnte. Denn in St. Denis wurden zwei Selbstmordattentäter im letzten Moment von aufmerksamen Sicherheitsleuten daran gehindert, ins Stadion zu gelangen.
Der Testkick der DFB-Auswahl wurde in 66 Ländern direkt ausgestrahlt. Sogar Staatspräsident Francois Hollande und der frühere deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier waren anwesend, als drei Selbstmordattentäter kurz nach Spielbeginn versuchen, ihren brutalen Plan in die Tat umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt sind nur noch drei Eingänge des Stadions für Zuschauer geöffnet. Der erste Terrorist probiert es im Sektor Ost. Allerdings wird der Täter kontrolliert und eine Sprengstoffweste entdeckt.
Sofort flüchtet der Attentäter, sprengt sich in die Luft und reißt einen Passanten mit in den Tod. Der zweite versucht es im Sektor Nordost. Aber auch dieser Versuch scheitert an den Sicherheitsvorkehrungen, auch er sprengt sich anschließend in die Luft. Der dritte Attentäter befindet sich 300 Meter vom Stade de France entfernt vor einer McDonald’s-Filiale und zündet seinen Sprengstoffgürtel wenige Minuten später, wobei keine weiteren Menschen ums Leben kommen. Alle drei Explosionen waren im Stadion wahrnehmbar, die beiden ersten sind in der TV-Übertragung zu hören.
„Der Vergleich mit 9/11 ist mir auch viele Male gekommen“
Was die drei Attentäter im Detail vorhatten, ist ungeklärt, aber es gibt eine naheliegende Theorie: Zwei der drei Beteiligten sollten ins Stadion eindringen und sich auf einer der Zuschauertribünen in die Luft sprengen. Alles vor den laufenden Kameras, um maximale Aufmerksamkeit in der ganzen Welt zu generieren. Der Dritte hatte dann die Aufgabe, vor dem Stadion zu lauern und seine Sprengweste zu zünden, wenn zehntausende Fans in Panik fliehen, berichtete der Fernsehsender France Info im Nachhinein.
Dass die deutsche Nationalelf 0:2 verlor, verkam so schon während des noch laufenden Spiels zur Nebensache. „Ich fühle mich wie in einem Albtraum“, kommentierte ARD-Reporter Tom Bartels. Auf der Ehrentribüne wurden Hollande und Steinmeier über die Lage in Paris informiert. Was wäre passiert, wenn der Plan der Attentäter im Stade de France auch aufgegangen wäre? „Schon ein einzelner Selbstmordattentäter hätte viele Menschen mit in den Tod genommen“, sagte Steinmeier einmal. „Das hat mich bis heute nicht losgelassen. Der Vergleich mit 9/11 ist mir auch viele Male gekommen.“
Innerhalb des Stadions machten sich angesichts der undurchsichtigen Situation dennoch Angst und Entsetzen breit. In der Halbzeit wurde den damaligen Trainern Joachim Löw und Didier Deschamps mitgeteilt, dass die Partie wie geplant fortgesetzt werden solle, um eine größere Panik zu vermeiden. Beide teilten diese Einschätzung. Zeitweise waren die Ausgänge des Stade de France abgeriegelt. Erst nach Spielende wurden die Zuschauer geordnet aus dem Stadion geleitet. Weil aber nicht alle Ausgänge geöffnet waren, rannten viele Fans auf den Rasen.
Diarras Cousine war unter den Todesopfern
„Du denkst, du gehst zum Fußballspiel – und am Ende war das der schwärzeste Tag“, sagte Bastian Schweinsteiger, 2015 Kapitän der DFB-Elf, in einer ARD-Dokumentation. Auch die beiden Nationalmannschaften verblieben nach dem Spiel im Stadion und waren dem Horror gefangen. Bis in die frühen Morgenstunden harrten Schweinsteiger und seine Kollegen im Stadion aus, ehe sie in mehreren Kleinbussen zum Flughafen gebracht wurden. Die französischen Kollegen leisteten ihnen dabei zeitweilig Gesellschaft.
Die Straßen seien auf der Rückfahrt „menschenleer“ gewesen. „Paris sah aus wie ein Schlachtfeld, das verlassen worden ist“, erinnerte sich Julian Draxler, der ebenfalls Teil des Teams war. „Man hat Angst, Panik – das will man nicht zeigen, aber man hat 1000 Gedanken im Kopf“, gab Torhüter Kevin Trapp einen Einblick in die grausame Nacht, die für den französischen Nationalspieler Lassana Diarra, der am Abend an dem Spiel gegen Deutschland teilnahm, besonders schlimm endete. Eine seiner Cousinen zählte zu den Todesopfern.
„Sind wir das Terrorziel Nummer eins?“
Nur vier Tage nach den Anschlägen von Paris sollte das DFB-Team ein weiteres Freundschaftsspiel gegen die Niederlande in Hannover bestreiten – als Symbol für Stärke und Normalität. Aber daraus wurde nichts. Kurz vor dem Anpfiff evakuierten die Verantwortlichen das Stadion. Der Verdacht: konkrete Anschlagsgefahr. „Wir mussten uns fragen: Kann so etwas auch bei uns passieren?“, sagt Uwe Kolmey, der damalige Direktor des Landeskriminalamts Niedersachsen. Oliver Bierhoff, Ex-Teammanager des DFB-Teams, betonte: „Mich hat die ganze Zeit beschäftigt: Sind wir jetzt die Zielscheibe?”
Zehn Jahre sind seither vergangen. Doch die Terroranschläge sind nach wie vor im Hinterkopf. „Diese Angst hatte ich schon: Sind wir das Terrorziel Nummer eins?“, offenbarte auch Draxler in einem Interview des Magazins Stern zurück. „Tote Nationalspieler, egal ob deutsche oder französische, hätten den Attentätern weltweit noch mehr Aufmerksamkeit gebracht.“ Heute fühle er sich „in großen, unkontrollierbaren Menschenmengen nicht mehr wohl“, schilderte der frühere Nationalspieler.
Wie Draxler wird auch Neuer die schlimme Nacht von vor zehn Jahren wohl nie vergessen. „Es war eine Situation, die man keiner Gesellschaft, keiner Stadt wünscht. Diese Erinnerung löscht sich nicht einfach, das ist immer ein Riesenthema. Das waren schaurige Zeiten“, erzählte der Kapitän des FC Bayern nun. Am Dienstagabend muss er seine Emotionen aber zumindest für 90 Minuten beiseiteschieben.




