„Sean Combs: The Reckoning“

Von Natalie Brunner
Man erfährt in den vier Teilen von „The Reckoning“ nichts Neues, wird aber hineingeführt in ein toxisches System aus Ausbeutung und Gewalt. Man sieht viel Übles, und auch die Machart der Doku ist diskussionswürdig. Sie mündet darin, dass den Geschworenen und dem Gericht unterstellt wird, von Combs und seiner Propagandamaschinerie manipuliert zu sein.
Produziert hat „Sean Combs: The Reckoning“ sein alter Erzfeind 50 Cent. Am Ende bleibt die Frage: Wenn es alle gewusst haben, wie konnte es dann so lange für den Täter funktionieren, und wieso gibt es erst jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Person Combs, aber keine mit dem System, das derartige Dinge zugelassen hat? Der Hip-Hop-Lesekreis hat sich durch die vier Teile von „Sean Combs: The Reckoning“ gequält.
Wenn es nach Sean Combs gegangen wäre, hätten wir die Dokumentation „Sean Combs: The Reckoning“ nie gesehen. Seine Anwälte schickten vor dem Starttermin am 2. Dezember eine Unterlassungserklärung an den Streamingdienst und forderten, dass die Serie entfernt wird. Sie behaupteten, dass darin geschütztes Material verwendet wurde und Gespräche über rechtliche Strategien zu sehen und zu hören sind, die nie für die Öffentlichkeit gedacht gewesen sein sollen.
Was Combs besonders getroffen hat, ist Filmmaterial, das kurz vor seiner Festnahme entstanden ist. Er selbst hatte ein Videoteam engagiert, um seine Sicht der Dinge festzuhalten und sich öffentlich als unschuldig darzustellen. In einem aufgezeichneten Telefonat mit einem Anwalt sagte er, dass er auf Social Media die Kontrolle über die Erzählung verliere und verlangte nach jemandem, der bereit sei, im „schmutzigsten Geschäft“ zu arbeiten. Dass er selbst Opfer eines mehr oder weniger schmutzigen Geschäfts geworden ist und das Material auf legalem Weg in die Hände der Produktion von 50 Cent gelangt ist, dürfte den Mann, der besessen davon ist, den „Narrativ zu kontrollieren“, besonders treffen.
Combs verbüßt zu diesem Zeitpunkt eine 50-monatige Haftstrafe, und zusätzlich rollte eine Welle von Zivilklagen über 60 auf ihn zu. Ehemalige Freundinnen, Mitarbeitende und Wegbegleiter werfen ihm unter anderem Vergewaltigung, Sexhandel, Freiheitsberaubung und körperliche Gewalt vor. „The Reckoning“ greift diese Vorwürfe auf und die Regisseurin Alexandria Stapleton zeichnet über vier Folgen hinweg ein Bild von Verhaltensmustern, die sich über Jahre aufgebaut haben und die nicht besser wurden, als Puffy Kokain, MDMA, Ketamine und XTC entdeckt hat.
Man lernt Combs als jungen Mann kennen, hungrig nach Erfolg, bereit, länger und härter zu arbeiten als alle anderen. Das erste Kippen ist ein von Combs schlecht organisiertes Basketball-Event im Jahr 1991, bei dem neun Menschen in einer Massenpanik starben. Diese Tragödie nutzte Combs, um berühmt zu werden, mit tränenreichen öffentlichen Statements. Auch, wie er den Tod des bei seinem Label Bad Boy unter Vertrag stehenden Notorious B.I.G. nutzt, um zum Star zu werden, wird erzählt, und das von Puffy kolportierte Narrativ der innigen Verbundenheit und Freundschaft zwischen ihm und Biggie wird zerstört. Man sieht Aufnahmen von einem manisch schreienden Puffy in seinem Büro, der brüllt, dass seine Artists ihm „gehören“.
Die Schlüsselfigur in der Serie ist Sean Combs’ Ex-Partnerin Cassie Ventura, doch sie selbst spricht nicht in der Doku. Aufnahmen von Überwachungskameras, die zeigen, wie Combs sie in einem Hotel niederschlägt, auf sie eintritt und über den Boden zurück in das Zimmer schleift, brachten den Skandal ins Rollen. In der Doku erzählen Bodyguards und Sexarbeiter, wie Cassie Ventura in ihrer Anwesenheit verprügelt worden ist und sie nicht eingeschritten sind. Ventura hat Combs 2023 wegen Vergewaltigung und häuslicher Gewalt verklagt, und Angaben zufolge kam es zu einer Einigung über rund 20 Millionen Dollar. Auch die berüchtigten, noch gerichtsanhängigen White Partys von Combs mit ihren prominenten Gästen werden nicht erwähnt.
„Sean Combs: The Reckoning“ hat letzte Woche die Streaming-Charts getoppt und wirkt wie ein grauslicher, vorletzter Akt in der Causa Puffy, weil die Serie so viele schwere Vorwürfe offenlegt und sie so detailliert mit Interviews von Überlebenden belegt, dass ein Comeback von Combs schwer vorstellbar ist. Weitere Enthüllungen und Monstrositäten sind fast zu erwarten.
Hier spricht der FM4 Hip-Hop-Lesekreis über „Sean Combs: The Reckoning“: sound.orf.at




